"Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?"
"Hiersein ist herrlich!"
Die Worte "rühmen" und "preisen" durchziehen das Spätwerk Rilkes. Ein Schlüsselwort der "Duineser Elegien", Rilkes bedeutendstem Gedichtzyklus, lautet: "Hiersein ist herrlich!"
"Uns rühmt es zu blühen."
"Preise dem Engel die Welt."
Hier meldet sich Widerspruch: Wie verträgt sich das Preisen des "Hierseins" mit der Warnung vor dem "trügerischen Aussen"? Der Erkenntnis, dass "nirgends Welt ist als innen"? Dem Durchschauen des Glücks als einem "voreiligen Vorteil eines nahen Verlustes"?
Ich meine, es gibt ein "Dennoch" - ein einziges grosses "Dennoch!" -, das Rilke, je älter er wird, immer "inniger" sagt, mit einer fast verzweifelten Inbrunst. Dieses "Dennoch" schreit er dem Engel zu - auf die Gefahr hin, dass der, wie er gleich zu Beginn der "Duineser Elegien" argwöhnt, ihn ja doch nicht hört:
"Wer, wenn ich schriee,
hörte mich denn
aus der Engel Ordnungen?"
Rilke, hier als 31jähriger, galt als milder
und stiller Mann. Frauen, so heisst es, waren verzaubert
von seinem Gesicht, seiner Behutsamkeit
"Lieben heisst allein sein"
Die Spannung zwischen dem "Innen" und dem "Aussen" prägt Rilkes Verhältnis zur Liebe. Er war ein Liebender. Viele Frauen - Fürstinnen und Prinzessinnen, begehrte, schöne, berühmte Frauen - gingen durch sein Werk und sein Leben. Luden ihn ein auf ihre Schlösser und Landsitze (so hatte die Fürstin von Thurn und Taxis ihm ihr Schloss Duino an der Adria bei Triest angeboten, wo der Durchbruch zu den "Duineser Elegien" geschah), reisten mit ihm, besuchten ihn in seinem mittelalterlichen Fluchtturm in Muzot im Wallis, waren verzaubert von seinem Gesicht, seiner Behutsamkeit und Milde.
Rilke war ein "Yin-Mann". Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie sehr er als Fremdkörper in der das "Heldische", das Martialische, das Kämfperische des Mannseins verherrlichenden Welt während und nach dem ersten Weltkrieg gewirkt haben muss. In mancher Hinsicht hat er einen erst heute allmählich häufiger werdenden Typ des Mann-Seins vorweggenommen.
Auf allen erhaltenen Kinderfotos
sieht man Rainer Maria Rilke in Mädchenkleidern
Frauen wollten ihn "bergen" - den milden, stillen Menschen, dem die Schwierigkeit mit dem Mannsein in die Wiege gelegt worden war. Die Mutter hatte sich ein Mädchen gewünscht, deshalb liess sie ihn "Maria" taufen. Auf allen Fotos, die von dem Kind erhalten sind, sieht man ihn in Mädchenkleidern. Aber: Dann schickte der Vater ihn auf eine - Militärschule. Der junge Maria flehte "wie kaum ein Mensch je gefleht", ihn aus der Soldatenkluft zu befreien, aber der Vater schickt ihn dann auch noch - auf eine Offiziers-Ausbildungsstätte. Es muss ihn förmlich zerrissen haben. Seine Schulkameraden verspotteten ihn. "René Maria" durchweinte die Nächte, musste darauf achten, dass seine um ihn herum schlafenden Kameraden sein Schluchzen nicht hörten: "Dann schon lieber Mädchen sein, bloss nicht Soldat." Er floh in das Dichten. Dass er es schaffte, beweist seine Stärke. Mit Neunzehn war er berühmt.
Wie liebt solch ein Mensch?
Rilke hat die Vision der bedingungslosen Liebe, der Liebe, die nicht "abhängig" ist. Nicht: "Ich liebe dich, weil du mich liebst." Nicht: "Liebe mich, damit ich dich lieben kann." Sondern: "Die ganze lautlose Landschaft".
In den "Duineser Elegien" findet er "die Verlassenen ... liebender ... als die Gestillten". Meist liebte er "wie aus grosser Ferne". Er liebte in Briefen - mehr als 7000 sind bisher veröffentlicht, 90 Prozent davon an Frauen geschrieben -, empfand eine Beziehung aus der Distanz als "intimer" als in der Nähe. Bei keinem anderen deutschen Dichter gehören die Briefe so sehr zum Lebenswerk wie bei ihm. Er liebte in sanften, immer neuen Befreiungsakten - schliesslich auch fern von seiner - gleichwohl geliebten - Frau, der Jugendstil-Bildhauerin Clara Westhoff. Als er mit ihr in Rom war, arbeitete sie in der einen, dichtete er in einer anderen Wohnung. Am Ende schrieb er ihr nur noch, war besorgt um die gemeinsame Tochter.
"Frauen haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht." - "Was spielt er in der Geschichte der Liebe für eine triste Figur: er hat fast keine Stärke als die Überlegenheit, die die Tradition ihm zuschreibt ... war immer nur an der dünnsten Stelle an der Liebe beteiligt ... dieser Blinde, Stürmende, der um die Welt fahren will und nicht einmal um ein Herz den Weg zu vollenden vermocht hat..." Immer wieder erschrickt Rilke vor der Gewaltsamkeit der von Männern gelenkten Lebenswelt - zumal im Ersten Weltkrieg. "Der Mann war immer der Veruntreuer dessen, was er in der Liebe empfing."
Aber: In der ersten "Duineser Elegie" fragt er zweifelnd, ob er seinen dichterischen Auftrag noch "bewältige". Er spürt, seine Ideen und Eingebungen könnten kommen, "als kündigte alles eine Geliebte dir an" (immer wieder diesen Vergleich des Dichtens mit dem Lieben!), und dann fragt er unsicher:
"Wo willst du sie" (also die Geliebte) "bergen,
da doch die grossen fremden Gedanken bei dir
aus- und eingehen und öfters bleiben bei Nacht."
Auf Schloss Duino an der Adria (hier die Ruine)
brachen 1922, vier Jahre nach Kriegsende, "wie ein Sturm"
die "Duineser Elegien" aus dem Dichter hervor
Ashtar-Linara