"Erst der Tod macht uns ganz."

Liebe und Tod gehören für Rilke zusammen, bilden "das Ganze", "das Eine", das "tiefe Sein", das grösste Bewusstsein", das "Offene", das in Richtung auf den Tod immer offener wird. Einer Schlossherrin in Kärnten - der Urheimat der Rilkes - schreibt er, unsere Anstrengung "kann nur dahin gehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen ... Glauben Sie nur, liebste Gnädigste Gräfin, dass er ein Freund ist, unser tiefster ... Er ist der eigentliche Ja!-Sager. Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.

Es ist der "Tod der Geliebten", der den Jüngling - den Dichter - das Land des Todes entdecken lässt:

 

"...da waren ihm die Toten so bekannt,

als wäre er durch sie mit einem jeden

ganz nah verwandt;

er ... nannte jenes Land

das gut gelegene, das immer süsse..."

 

Irgendwo weit in der "Landschaft des Todes", tief in der "Talschlucht, wo es schimmert im Mondschein", entspringt eine Quelle: "Es ist die Quelle der Freude."

Dort also kommt sie her: Die Freude, das Herrliche Hiersein, das Glück des Rühmens und Preisens - aus der Landschaft des Todes. Es ist eine Vision von der Intensität des Tibetanischen Totenbuches. Die "Landschaft des Todes" ist eine Art Rilkesches "Bardo" des "Landes zwischen Leben und Tod" der Tibeter, das für ihn "von Rosen verschönt" wird.

Rilke hat Rosen besungen wie nichts anderes "Geschaffenes" - in den schönsten und tiefsten Worten, die je über Rosen geschrieben wurden. Zum Beispiel:

 

"Rose, o reiner Widerspruch!

Lust, niemandes Schlaf zu sein

unter soviel Lidern."

 

Diese Worte stehen auf seinem Grabstein. Nichts sonst. So wichtig war ihm die Rose. Katharina Kippenberg, die Frau seines Verlegers, die ihm eine verklärende Biographie gewidmet hat, vermutet: so wichtig wie Christus das Kreuz. Ich würde vermuten: so wichtig wie für Buddhas Lehre der Lotus.

Und dann - in seinem Todesjahr 1926, als ihn die Leukämie mit kaum mehr erträglichen Schmerzen schon gezeichnet hatte - war es "eine Verletzung vom Dorn einer Rose", die das vergiftete Blut des Dichters vollends vergiftete. Die so sehr gefeierte Blume, sagt Katharina Kippenberg, hätte "ihrem Sänger und Freund besser vergelten sollen", wie sehr er sie geliebt hat. Aber hat sie ihm seine Liebe und sein Rühmen nicht auf wunderbare Weise vergolten, indem sie sein Leiden verkürzte? Liebe und Tod: Auch in seinem eigenen Leben ganz nah beieinander!

 

"Die Beseeltheit der Dinge"

Rilke begriff - konnte buchstäblich fühlen - die "Beseeltheit der Dinge". Zum Beispiel die Beseeltheit von Steinen und Bäumen. Von Möbeln in einem Zimmer, das er betrat. Auf Capri beobachtet er, dass "ein Vogelruf draussen und in seinem Innern übereinstimmend da war, indem er sich gewissermassen an der Grenze des Körpers nicht brach, sondern beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem ...nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewusstseins blieb".

Er tat, was heute Hopi-Indianer in ihren Workshops lehren: umarmte einen Baum und fühlte die Botschaft der Schwingungen, die "aus dem Inneren des Baumes fast unmerklich ... in ihn übergingen" ( - ohne dass Indianer es ihn lehren mussten!). Die Fürstin von Thurn und Taxis berichtet von einem Ölbaum in der Nähe ihres Schlosses Duino, an den er sich lehnte, "den Kopf gegen die Äste stützend", und sofort war ihm, "als stünde er in einem anderen Leben ... Alles, was er je hier gelebt, geliebt und gelitten hatte, kam zu ihm, umgab und bestürmte ihn ... da war keine 'Zeit' mehr ..."

War er bereits ein "ökologischer Dichter", auch hierin seiner Zeit voraus, immer wieder sein Einssein mit der Natur erfahrend und feiernd? "Erde, Du liebe!" dichtet er, pries den Planeten des herrlichen Hierseins".

Aufschlussreich, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg Anhänger der Naturheilkunde wurde. Er wusste um den Einfluss der Nahrung auf die Psyche, ernährte sich meist vegetarisch, dichtete über den Atem, als kenne er die indische Pranalehre oder hätte Ilse Middendorffs "Erfahrbaren Atem" gelernt.

Dass Rilke sozial und politisch blind war, ist nur bedingt richtig. In Paris grüssten ihn die unter den Brücken nächtigenden Clochards, weil sie seinen Respekt und sein Mitgefühl spürten. Das Leid eines Blinden, dem er im Jardin du Luxembourg begegnete, bewegte ihn monatelang - führte ihn zu der Frage, ob denn sein Denken, Schreiben, Dichten über den Blinden diesem überhaupt etwas helfen könne.

Im ersten Weltkrieg wollte er Mitarbeiter von Romain Rollands Friedens- und Kriegsgefangenen-Arbeit in Genf werden - ähnlich wie Hermann Hesse (dieser ihm so sehr verwandte!) in einem Schweizer Amt für Gefangenenfürsorge tätig war. Der Krieg "versteinerte" ihn, so dass er fast "erlosch" - sogar noch für vier Jahre danach, bis 1922 der "Sturm" der Elegien aus ihm brach, als bräche er aus Stein.

Bereits von der Leukämie gezeichnet:

 Rilke im Februar 1926, kurz vor seinem Tod

 im Sanatorium in der Schweiz

 

 

"...denn dann nur sind die Stimmen gut, wenn Schweigsamkeiten sie begleiten..."

 

"Tempel im Gehör"

Romano Guardini nennt Rilke einen "Mann des Ohres". Rilke wusste um die Begrenztheit dessen, was er "Gesicht" nannte, um die so unvergleichlich "tiefere Tiefe" des Lauschens:

 

"Gesicht, mein Gesicht: wessen bist du?

Für was für Dinge bist du Gesicht?

Wie kannst du Gesicht sein für so ein Innen...?"

 

Programmatisch eröffnet Rilkes schönstes Hörgedicht - überhaupt wohl das tiefste Gedicht über das Hören in deutscher Sprache - das Büchlein der Orpheus-Sonette, das letzte Werk des Dichters:

 

"...Tiere aus Stille drangen aus dem klaren

gelösten Wald von Lager und Genist;

und da ergab sich, dass sie aus nicht List

und nicht aus Angst in sich so leise waren,

sondern aus Hören..."

 

Der nach innen Lauschende macht sich "ein Bett im Ohr", im erstehen "Tempel" im Gehör - "mit einem Zugang, dessen Pfosten beben". So geht ein Anschaun auf in einem Ohr, ein Leuchten auf in einem Hören - und dieses auf im Reinen Sein.

"In seinem Lebensstil", berichtet Katharina Kippenberg, übte er "das immer wieder gerühmte Schweigen". Als er um 1900 zum ersten Mal ins Künstler-Dorf Worpswede bei Bremen kam und sich dort in seine spätere Frau Clara Westhoff verliebte, lehrte er die lauten, lärmenden und lachenden Jugendstilmaler schweigen, "aus jedem Wort ein Kleinohr zu machen":

 

"...denn dann nur sind die Stimmen gut,

wenn Schweigsamkeiten sie begleiten..."

 

"Ein fürallemal ist's Orpheus, wenn es singt"

"Ein fürallemal ist's Orpheus, wenn es singt." Zunächst klingt das ja fast wie Marketing-Sprache - als nähme es auch die schon voraus: "Ein fürallemal ist's Urquell, wenn es schmeckt."

Versteht sich, die Zeile zielt tiefer. Trifft tief. Nur so ist erklärlich, dass sie nun schon siebzig Jahre lang eine der meistzitierten Rilke-Zeilen ist. Warum ist sie das geworden? Was - wo? - ist die Stelle in uns, die ihre Stimmigkeit spürt - ahnt?

Es muss ja eine allem rationalen Denken widersprechende Stimmigkeit sein. Sobald wir unseren Verstand einsetzen, wehrt sich alles dagegen, dass der sagenhafte antike Sänger - der griechische Halbgott Orpheus in - sagen wir - Michael Jackson oder Madonna singen könnte. Was für ein Unsinn! sagt der "mind". Dennoch muss es diese Stimmigkeit geben, sonst könnte der Satz nicht so "gefühlt" werden, so ins Schwarze zu treffen scheinen. Also lasst uns ihm nachspüren - jenseits der Ratio. Wer das tut, kann nur von eigener Erfahrung sprechen. Ich also von mir. Ich kann Orpheus - seine Ekstase, seine Freude und Lust an Eurydike und am Leben, seinen Weg in das Dunkle, seine Ohnmacht, seine Enttäuschung, auch seine Wut, seinen Stolz und sein Kämpfen - ich kann all dies hören zum Beispiel im Gesang Billie Holidays. Oder Louis Armstrongs, in Ella Fitzgeralds "How hight the moon", in Frank Sinatras "Going my way", in Pavarottis Singen (natürlich vor dem "unsäglichen" Terzett) ... sogar im Lied eines Kindes oder im Schlaflied, das eine Mutter für ihr Baby singt - kann Orpheus in all den Genannten hören - und in vielen anderen. Jede/r setze da das "Orpheus-Organ" ein, was für sie und für ihn stimmt. Wähle die Sänger, mit denen du resonierst, und wirst merken, sie resonieren mit Orpheus. Höre "hindurch", und - Orpheus singt mit. Du wirst auf diese Weise kostbare Entdeckungen machen.

Das meine ich mit Rilke wörtlich nehmen.

 

Rilke geschah

Rilke geschah. Es gibt in der deutschen Literatur und im deutschen Denken keine Linie, die zu ihm geführt hätte. Die anderen grossen deutschen Dichter und Denker sind eingebettet in eine Entwicklung, die zu ihnen weist - und von ihnen weiterführt. Rilke ist "der Einzelnste". Das bezeichnet den Rang seiner Kreativität. Er war ein Ereignis wie ein bis dahin nie gesichteter Komet. Solchen Ton kannten wir nicht. Mit Recht nennt Volker Michels ihn "den grössten und anspruchsvollsten Lyriker des 20. Jahrhunderts" und Rudolf Kassner "die reinste Figur der deutschen Literatur seit ich weiss nicht wie lange".

Aber wir kennen ihn heute - und ich meine damit nicht die ungezählten, wieder vergessenen Rilke-Epigonen ... Ich meine (denn ich handle hier nicht von Literatur): Noch schöpferischer ist Rilke geworden im Denken und Fühlen des Neuen Bewusstseins.

 

(Mit freundlicher Genehmigung des Hermann Bauer Verlages KG -

aus: esotera November 11/97)  

 



Ashtar-Linara