UND DAS NEUE BEWUSSTSEIN
"NIRGENDS WIRD WELT SEIN ALS INNEN"
Wer in ihm "nur" den grossen Dichter sieht, wird Rainer Maria Rilke nicht gerecht. Mit ihm, spürten viele schon zu seinen Lebzeiten, sprach "ein Wissender". Prof. Joachim-E. Berendt, der sich für eine Tonproduktion wieder in Rilkes Leben und Werk vertiefte, lässt ihn in ganz andrem Licht erscheinen: als Medium und visionären Vorboten eines neuen Bewusstseins
Von Joachim-Ernst Berendt
ainer Maria Rilke war ein Visionär des Neuen Bewusstseins. Vielleicht ist er - diesseits der Mystiker des Mittelalters - überhaupt der Visionär. Wir mögen es nennen, wie wir wollen - Esoterik, New Age, Paradigmenwechsel, Neues Bewusstsein - all das beginnt mit Rainer Maria Rilke. Nur dass es bei ihm nicht esoterische Literatur ist, sondern Dichtung, deshalb auch die Freiheit - und Schönheit, diese unvergleichliche Schönheit! - dichterischen Wortes geniesst.
Rilke (1875 - 1926) hat auch selber gewusst - mindestens geahnt -, was mit ihm begann: dass er "etwas Tiefes und Neues, eine metaphysische, genauer gesagt, religiöse Botschaft" (Romano Guardini) aussprach. Sofort spürten Tausende: hier spricht ein Wissender. Als er die "Duineser Elegien", sein Hauptwerk, schrieb, wunderte er sich selbst, was da zu ihm kam, mit welcher Macht es "eindrang" in ihn, niedergeschrieben werden "musste", als habe es ihn "überfallen": "An Essen war nie zu denken, Gott weiss, wer mich genährt hat", schrieb er Lou Andreas-Salomé, der treuesten seiner Freundinnen (von denen mehrere berichtet haben, er sei "medial veranlagt" gewesen).
Ein Münchner Medium, das nichts von ihm wusste - noch nie den Namen Rilke gehört hatte -. geriet, kaum war er im Zimmer, "ausser sich, hielt die Hände vors Gesicht und rief, das sei ja enorm, ganz ernorm. Ähnliches habe sie nie erlebt" (Katharina Kippenberg). Das Entstehen seiner "Sonette an Orpheus" nannte er "das ungehorsamste und rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten habe."
"Wolle die Wandlung!"
Wir stehen in einer Tradition, in der immer noch Martin Luthers Satz "Hier stehe ich - ich kann nicht anders - Gott helfe mir!" für viele - zumal die Männer unter uns - etwas Verpflichtendes besitzt. Rilke hingegen setzte auf Wandlung:
"Wolle die Wandlung!..."
"Du musst Dein Leben ändern..."
Die Worte "Wandlung" und "Verwandlung" durchziehen sein Werk. Heute sind sie uns geläufig. "Menschsein ist nicht ohne Wandlung." Als Rilke dies schrieb, Anfang des Jahrhunderts in der ausgehenden deutschen Kaiserzeit, war es eine revolutionäre Botschaft.
"Aussen ist Täuschung"
Wie kein anderer deutscher Dichter, Denker, Schriftsteller seit Meister Eckehart im 13. Jahrhundert hat Rilke seine Leser in den "Weltinnenraum" geführt.
"Aussen ist Täuschung."
"Ach, wir atmen uns aus und dahin."
Er verglich das menschliche Leben mit den Illusionen eines "Jahrmarktes": "Uns über-füllt's - wir ordnen's, es zerfällt." Das "behübschte" (dieses Wort mochte er) Glück, nach dem die Menschen streben, ist ihm nur eine "Schiessbude": Wenn man trifft, klingt es blechern.
Immer wieder warnt er vor der Gefahr einseitigen Intellektes:
"Wer zuviel begreift, dem geht das Ewige vorbei."
Rilke rät, die Augen zu schliessen, nach innen zu lauschen, still zu werden:
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"Denn des Anschauens, siehe, ist eine Grenze...
Werk des Gesicht's ist getan,
tue nun Herz-Werk
an den Bildern in dir, jenen gefangenen..."
All dies könnte, wenn man die Sprache - diese unvergleichliche Sprache! - abzieht, der Rat moderner Therapeuten sein. Rainer Maria Rilke aber schrieb diese Zeilen vor und kurz nach dem ersten Weltkrieg!
Rainer Maria Rilke (hier im Alter von 22 Jahren)
fühlte die Beseeltheit der Dinge und vernahm
die Botschaft von Pflanzen als Schwingung
"Die grosse Einheit - das Sein"
"Holistik", "Ganzheit", "ganzheitlich leben" - all diese Worte, die uns heute so wichtig sind - klingen bereits bei Rilke an. In einem Brief von 1925 schreibt er, es gibt "weder ein Diesseits, noch ein Jenseits, sondern die grosse Einheit". Fordert, "nicht in ein Jenseits" zu streben, "dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze".
In den überwältigenden Reichtum von Rilkes Sprache gibt es viele Worte für das Sein: "Das Offene". Das "Ewige", das uns "für immer heilt". Der "Reine Raum", in dem wir so eins werden, dass wir "mit den Dingen schlafen", als schliefen wir mit einer Geliebten. Der "Herzinnenraum". "Die Leere". Ein ganz und gar ihm eigener Ausdruck ist "Vollzähligkeit". In ihr sind alle Gegensatzpaare - "schön" und "hässlich", "gut" und "böse", "Gott" und "Teufel" - aufgehoben.
Gerade die Sprache - diese unverwechselbare, im Ringen mit den Worten entstandene Sprache - lässt keinen Zweifel: Rilke hat nicht von irgendwelchen weisen Meistern abgeschrieben, er hat, was er schrieb, selber erfahren.
Rilke mit seiner Ehefrau,
der Jugendstil-Bildhauerin Clara Westhoff.
1903 in Rom. Zumeist liebte der Dichter in Briefen -
"wie aus grosser Ferne"
Ashtar-Linara