Der
Fluss und die Wüste
Ein
Fluss kommt nach langer Reise an eine grosse Sandwüste, und da ihm die Wüste
im Wege ist, sammelt er all sein Wasser, und er beginnt mit aller Kraft gegen
sie anzufliessen. Doch wie er sich auch anstrengt, es will ihm nicht gelingen,
die Wüste zu durchqueren, und seine Wassermassen versickern im feinen Sand.
Da
spricht der Wind zu ihm: „Ich sehe Deine Anstrengung, und ich will Dir helfen.
Komm löse Dich auf in mir, und ich werde Dich über diese Wüste tragen und
fern am Horizont an den Bergen hinter der Wüste, da will ich Dich wieder
loslassen.“
Doch
der Fluss antwortet: „Wie kann ich wissen, dass Du die Wahrheit sprichst? Und
woher weiss ich, dass Du mich wieder loslässt, wenn ich mich von Dir tragen
lasse? Wie soll ich vertrauen in etwas, was mir unbekannt und fremd ist?“
So
versucht er von neuem, gegen die mächtige Wüste anzuströmen, nimmt all seine
Kraft und all seine Wassermassen, doch so sehr er sich anstrengt, all sein
Wasser versickert im feinen Sand.
Der
Wind aber spricht: „Ich sehe Dein furchtloses Bemühen, komm zu mir und lass
Dich tragen von mir. Löse Dich auf in mir, und ich werde Dich in mir aufnehmen
und mir Dir hoch über die Wüste fliegen, und weit hinterm Horizont an den
Bergen werden wir höher und höher steigen, und dann werde ich Dich loslassen,
und Du musst nichts tun, nichts denken, und Du brauchst nichts zu wissen. Du
kannst es geschehen lassen und wirst sehen, es geht wie von selbst.“
Doch
der Fluss antwortet: „Wie kann ich die Zuversicht haben, dass Du mich wirklich
tragen wirst? Wie soll ich mich Dir anvertrauen, wohne genau zu wissen, was
geschehen wird? Wie soll ich mich auflösen, ohne zu wissen, ob ich dann noch
derselbe bin? Wie soll ich loslassen und nichts tun und nichts denken? Kann ich
in gutem Glauben alle Kontrolle über mich verlieren in der Hoffnung, dass alles
wie von selbst geschieht?“
Von
neuem sammelt der Fluss all seine Kraft und stemmt sich mit seinen Wassermassen
gegen den Sand. Doch wieder versickern seine Wasser , und all sein Bemühen und
all seine Anstrengung ist ohne Wirkung.
Der
Wind streicht über ihn und spricht: „Komm, ich werde Dich sanft umschlingen
und in mich lassen. Dann werde ich Dich über diese Wüste führen, und Du wirst
spüren, wie angenehm es ist, schwerelos voll Leichtigkeit zu schweben. Wir
werden höher und höher gleiten, fliegen bis hinter den Horizont, wo wir Wolken
bilden, wo wir zart zueinander finden und heftig verschmelzen. Und wenn wir uns
von einander lösen, wird es
regnen, und Du wirst Deine Gestalt auf neue Weise wiederfinden. Komm, hab
Vertrauen, denn Du findest Deinen Weg, und wie lange noch willst Du Dein Wasser
unnütz verschwenden?“
Und
der Fluss sammelt ein letztes Mal seine Kraft und stemmt sich gegen die Wüste,
doch erneut verschwindet all sein Wasser im feinen Wüstensand.
Ermüdet
und erschöpft lässt er ab von seinem Bemühen, und mit einem Seufzer gibt er
sich hin. Der Wind gleitet leise über ihn, umarmt ihn, nimmt ihn in sich auf,
verdunstet sein Wasser und trägt ihn hoch über die Wüste, so schwerelos, mit
aller Leichtigkeit, so sanft, so behutsam. Er führt ihn über die Wüste hin
zum Horizont bis zu den Bergen.
An
den Bergen beginnt er aufzusteigen, steigt höher und höher, bis sich Wolken
bilden, und Millionen kleine Tröpfchen beginnen zueinander zu finden, ohne
bewusst zu wissen, wie sie dies tun. Kraft und Energie entsteht in den Wolken,
und die kleinen Tröpfchen werden zu grossen Tropfen, die schwerer und schwerer
werden. Es geschieht wie von selbst, so mühelos, so angenehm. Energie entsteht
und heftige Luftbewegung, so dass sich Blitze und Donner
bilden, sich die Energie entlädt und die Wolken alle Spannung loslassen,
einfach loslassen.
Es
beginnt zu regnen. Die Tropfen beginnen zu fallen und tiefer zu sinken und
finden einen Boden, der sie dankbar aufnimmt. Sie sinken tiefer und tiefer,
beginnen zueinander zu strömen und sich ineinander aufzulösen, in diesem
unbewussten Wissen um die ewige Wiederkehr der Dinge finden sie sich selbst in
ihrer inneren Bestimmung. Tief im Boden sammeln sie sich, bis sie wieder den Weg
zum Licht, zur Quelle, finden, die zu sprudeln beginnt, sich mit anderen Quellen
vereinigt, zu Bächen wird, die miteinander verschmelzen. Und sich der Fluss so
neuerschafft, sein Bett findet und sich selbst erkennt.
Sein
Weg gleitet vorbei an Bergen und Hügeln durch Ebenen und Täler, wo er Wasser
und Leben bringt, wo Wälder wachsen und fruchtbare Felder stehen. Er fliesst
vorbei an Dörfern und Städten, und die Menschen nutzen seine Kraft, und Kinder
baden fröhlich und heiter an seinem Ufer. Sein Wasser vereint sich mit anderen
Flüssen, strömt hin zum Meer im Strom der Zeit zu seiner Heimat, in der alles
neu beginnt, wo Vergangenheit und Zukunft verschmelzen in der Gegenwart, und die
Zeit steht, und die Gezeiten kommen und gehen, in Ruhe und Selbstverständlichkeit,
in dem Vertrauen und der Sicherheit hin zur Mitte von Nirgendwo in einem Eins
und Alles sein.
Ashtar-Linara