Clonfinlough
ABIGAIL
von Hans Brockhuis
Langsam kam Abigail wieder zurück. Sie lag auf dem Boden und schaute direkt in das lächelnde Gesicht Rhiannons, der Mutter-Göttin, über ihr. Es war Vollmond! Doch alles war so verwirrend. In einem Moment war sie in der grossen Küche von Athlone Castle, im nächsten lag sie hier im Freien. Klar, etwas war aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Sie war kalt, denn es war Ende Oktober und ziemlich feucht. Sie hatte klopfende Kopfschmerzen, ihre Muskeln schmerzten, und ihre Beine waren mit Kratzern übersät. Kurz, sie fühlte sich miserabel.
Sie lag in einer Stechpalme mit dem Kopf auf einem grossen flachen Stein, auf welchem verschiedene Symbole waren, die sie nicht verstand. Sie berührte ihren Kopf; hm... da war eine Schwellung, die vorher nicht da war. Ihr Kleid war zerrissen, und sie war über und über beschmiert.
Was machte sie hier, um Himmels Willen? Wie kam sie hierher? Hunderte von Fragen gingen ihr durch den Kopf. Sie schaute zum Mond, aber sie verstand nicht. Eine Fledermaus, die herangeflogen kam, wusste es auch nicht. Dann hörte sie eine liebe Stimme in ihrem Kopf. Eine vertraute Stimme, die ihr in schwierigen Zeiten beistand. Sie konnte sie von dem Moment an hören, als sie ihre Eltern in einem grossen Feuer vor ungefähr fünf Jahren verloren hat.
"Mache Dir keine Sorgen, mein geliebtes Kind. Es wird alles gut. Da Du bemerkt hast, dass Du in einer Stechpalme liegst. Höre auf den Klang des Windes, was er Dir durch die Äste zuflüstert. Wie Caitlin Dir vorher über die Stacheln der "Tinne" sagte, wird er Dir sagen, dass Deine Ankunft etwas mit der Wiedergeburt des Liebesbewusstseins in Deinem Herzen zu tun hat. Bis jetzt bist Du noch nicht auf die wirkliche Liebe in Deinem jungen Leben getroffen, aber das ändert sich jetzt.
Die Stimme verstummte. Abby stand auf, glättete so gut als möglich ihr Kleid und schaute umher. Man konnte das Schloss nirgends sehen. Die Landschaft war flach und sumpfig. Die Wälder und die Umgebung ähneltem nichts, was sie bisher gesehen hat. Sie wusste nicht, wo sie war. Ihr Kopf klopfte, und ihr war kalt, von anderen Unannehmlichkeiten ganz zu schweigen.
Vor ihr lag ein Weg, und sie folgte ihm. Sie überquerte einen trägen Fluss mithilfe einiger Steine, auf die sie trat. Ein Lachs schaute aus dem Wasser, um zu sehen, wer da vorbeikam. Als sie im Dunkeln das Ufer betrat, berührte ihr Gesicht eine Spinnwebe, welche sie sich abwischte. Obgleich sie eine gute Katholikin war, wusste sie, dass die keltische Göttin Arianrhod mit dem Spinnrad und dem Rad des Lebens verknüpft wurde. Die Worte der Stimme schienen das zu bestätigen. Ihr Rad des Lebens machte in dieser speziellen Nacht Überstunden, ihre Intuition sagte ihr, dass da noch mehr kommen sollte. Je mehr sie im Jetzt bleibt, um so mehr würde ihr von ihrer Zukunft enthüllt.
Nach einer Weile waren ihre Kopfschmerzen fast vorbei, und sie begann, sich über sich selbst und ihr Schicksal zu freuen. Aufgrund einer Vorahnung wendete sie sich an einer Kreuzung nach links. Vielleicht ist da eine Farm oder sogar ein Ort, wo ich mich zurechtmachen und übernachten kann, dachte sie.
Sie nahm ihren Weg in der öden, mondbeschienenen Landschaft wieder auf. Als sie einen niedrigen Hügel erklommen hatte, sah sie einen glänzenden See unter ihr. Es war totenstill. Die Bäume am Strand waren still, und man konnte keine sanften Wogen auf dem See sehen. Jeder Atemzug war voll Erwartung. Als sie am See ankam, kniete sie nieder und trank. Dann hörte sie kraftvolle Flügelschläge. Eine kleine Gruppe Schwäne flog in einem grossen Kreis über den ruhigen See, und manchmal berührten sie mit den Flügelspitzen das Wasser. Dann formierten sie sich zu einer wunderschönen Einheit, die Unendlichkeit eines perfekten Kreises. Abigail war voller Bewunderung, als sie eifrig den graziösen Bewegungen dieser eindrucksvollen Vögel folgte.
Und wieder sprach die Stimme. "Abigail, sei Dir der wahren Schönheit dieser Geschöpfe bewusst. Erfahre die Kraft des Selbstes, und lass sie Dir helfen, Deine innere Schönheit nach aussen zu bringen. Lebe durch die Botschaft der Einmütigkeit, die hier gezeigt wird. Lass es geschehen und verbreite das Wort. Auch wenn Du es jetzt noch nicht erkennst, Du wirst darin sehr gut sein."
Abby dachte lang darüber nach. Als die Schwäne schon eine ganze Weile weg waren, bemerkte sie die Morgendämmerung im Osten. Ein neuer Tag erwachte, und sie empfand ihn als den Beginn eines neuen Lebens, das vor ihr lag. Sie hatte sich bereits entschlossen, nicht zum Schloss zurückzukehren, wo sie in der Küche arbeitete, um anderen, wie Frederick, der holländische Earl of Athlone, gefällig zu sein. Sie nahm sich vor, von heute an einen anderen Weg zu gehen. Sie hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte, aber es würde geschehen, das war sicher.
Es wurde immer heller, als sie durch eine Arkade aus Birken schritt und die Strasse wieder erreichte. Sie erinnerte sich an Caitlins Worte, dass die Birke (Beth in der alten gälischen Sprache) ein Symbol für Erneuerung, Reinheit und Reinigung sei. Wenn das keine Bestätigung für das, was ich gerade beschloss, ist, dachte sie, sollte ich sofort in eine Birke verwandelt werden! Und da das nicht geschah während sie kicherte, ging sie ihren Weg weiter.
Ein wenig weiter des Weges stand da ein Haselnussstrauch, ein Cull in gälisch. Ein Rabe sass auf einem Zweig, der über die Strasse reichte. Als Abigail vorbeikam sah sie, dass der Rabe sie mit seinen Augen verfolgte. Dann verriet der Vogel ihr: "Soll ich Dir etwas Weisheit einflössen?" "Du darfst", antwortete Abigail, und mit kindlicher Vermessenheit sagte sie: "Ich kann eine Menge Weisheit gebrauchen, da ich mich gerade entschlossen habe, Liebe in die Welt zu bringen. Es gibt soviel Elend in Irland, so dass es sehr nötig ist, auf diese Weise zu handeln."
"Aha", sagte der Rabe. "Das ist eine noble Sache danach zu streben, aber es kann nicht weise sein, jedem die Liebe aufzuzwingen, weil es dann nicht mehr Liebe ist. Es ist wie das Brot und die Spiele, die der Earl von Althone mit seiner Bevölkerung teilt. Das ist nicht Liebe. Das ist ein Investieren in das eigene Wohlergehen."
Abigail musste darüber nachdenken. Sie hatte sich noch nie in ihrem jungen Leben mit diesen Arten von Konzepten auseinandergesetzt. Sie half Caitlin beim Kochen. Manchmal erhielt sie eine gehörige Standpauke, und manchmal bekam sie Komplimente von der Hausmutter, aber das war alles. Dieses hier war etwas völlig anderes. Aber sie verstand, dass sie ihre Einstellung etwas verändern müsste. "Rabe, würdest Du mir erklären, was Liebe ist?" "Nein, das werde ich nicht", war die unverblümte Antwort. "Frage den Fuchs, der gerade ankommt."
Als der Rabe wegflog, schaute Abigail sich um. Ein roter Fuchs trottete die Strasse herunter. Das Tier zögerte und blickte dann in ihre Richtung.
"Hallo Abigail", sagte der Fuchs. "Ich höre vom Raben, dass Du wissen möchtest, was Liebe ist. Aber ich eigne mich nicht richtig dafür, dies zu tun." Der Fuchs sammelte einige Blätter des Haselnussstrauches zusammen, die heruntergefallen sind und warf sie mit seinem Maul in die Luft und bewegte sich dann schnell unter die fallenden Blätter. Während Abigail zuschaute, wie die Blätter auf ihn fielen, verwandelte sich der schöne Fuchs in einen jungen Mönch in einer grau-blauen Kutte.
Er trug das Symbol des Hohen Kreuzes. Sie kannte das Zeichen, da es von den Mönchen von Clonmacnois, der grossen Klosterverbindung an der Grenze des Shannon-Flusses, ca. zehn Meilen südlich von Althone, getragen wird.
"Tal", grüsste der Mönch. "Mein Name ist Thomas." Er sprach gälisch.
"Ich bin Abigail von Baile Atha Luain. Sprichst Du englisch?"
"Natürlich, aber ich dachte…" Er beendete seinen Satz nicht und blickte verstohlen auf die Löcher in ihrer Kleidung. "Du schaust nicht zum besten aus", stellte er fest.
"Danke für das Kompliment", forderte sie ihn heraus. "Du magst ein Mönch sein, aber in Deiner grauen Kutte kannst Du mir auch nicht die Show stehlen. Wie ist es möglich, Dich in einen Fuchs zu verwandeln?"
"Mein liebes Kind, das ist das Geheimnis des Kaufmanns. Irland ist voll von Magie und Illusion; Du solltest es für diese Zeit so hinnehmen. Stell Dir vor, der Fuchs kann Dir beim Entwickeln Deiner Unabhängigkeit in den Gedanken und Vertrauen in Deine Entscheidungen helfen. Und das ist für jetzt alles - oder? Als Fuchs findest Du mich schön, als Mönch nicht. Und nun - was macht es aus, ist das alles über Liebe - oder?"
Sie lachten beide. Abigail erzählte dem jungen Mönch ihre Geschichte. Er nahm sie ins Kloster mit, wo sie liebevoll im Empfangshaus für Frauen aufgenommen wurde, welches zum Klosterkomplex gehörte. Um eine lange Geschichte abzukürzen, Abigail von Althone wurde erwachsen, lernte dort alles, was man über die Liebe wissen sollte und verliess zusammen mit Thomas das Kloster, reisten als Barden durch Irland, um Glauben, Hoffnung, Liebe und einen Hauch von Magie unter der notleidenden irischen Bevölkerung zu verbreiten.
Epilog
Ungefähr 360 Jahre später, im Herbst 2005, besuchten Ada de Koning und ihr Freund Tom Dubbeldeman Irland. Sie betraten in Larne irischen Boden und bemerkten bald die Gastfreundschaft der Iren bei B&B (Bed and Breakfast), wo sie ihre Nächte verbrachten.
Nach ihrer Tour durch Ulster und auch der Irischen Republik blieben sie in Ballinasloe über Nacht und besuchten Athlone Castle. Während eines geführten Rundgangs wurde Ada von der Begrenztheit und der Enge der Küche getroffen. Sie war erstaunt, dass es während der Zeit von 1630 und 1844 zehn Earls von Althone dort gab. Alle stammten aus der niederländischen Familie Rheede-Ginckel, anderen Auflistungen zufolge die Namen Godard, Frederick, Renaud, George and William.
Als nächstes besuchen sie den sogenannten Clonfinlough Stein. Beschreibungen zufolge ist dies ein grosser Felsbrocken der, eben am Boden in der Mitte eines Feldes liegt und auf welchem Motive, wie Kreuze und etwas, was wie ein griechischer Buchstabe scheint und an menschliche Figuren erinnert, plaziert sind.
Als Ada das sieht, hat sie eine Vision, dass sie auf diesem Stein liegt, umgeben von Zweigen einer Stechpalme. Sie bekommt sofort klopfende Kopfschmerzen die sofort verschwinden, als sie ins Auto steigt. Nachdem sie 20 Minuten später, während sie einen kleinen See umfuhren, welcher ungewöhnlich ruhig trotz des Windes scheint, erreichen sie die Ruinen des Clonmacnois Klosters, wo sie einem ausgedehnten geführten Rundgang beiwohnten. Ada und Tom haben heftige Déja vu-Gefühle. Später an diesem Nachmittag kommen sie wieder, ein wenig durcheinander von all diesen Ereignissen, zu ihrem Wagen zurück und fahren nach Dun Loghaire. Früh am nächsten Morgen nehmen sie die erste Ferry, um Irland zu verlassen und nach Holland zurückzukehren.
(Quelle: http://www.runningfox.nl/)
Ashtar-Linara